Bianca Pedrina:
Photoprobleme

Für mich hat sich die Photographie seit ihrem Ursprung nicht verändert, ausser in den technischen Belangen, und die kümmern mich wenig. Die Photographie ist ein unmittelbarer Ausdruck der Sinne und des Geistes, die in visuelle Begriffe übersetzte Welt, ein unaufhörliches Suchen und Fragen. Eine Tatsache wird im Bruchteil einer Sekunde erkannt, und im gleichen Augenblick fügen sich die visuell wahrgenommenen Formen, die diese Tatsache ausdrücken und ihr ihren Sinn verleihen, zu einem streng gegliederten Ganzen. Entscheidend ist, dass wir voll und ganz in dieser Wirklichkeit stehen, die wir im Sucher zerstückeln. Der Photoapparat ist gleichsam das Heft, in dem die in Zeit und Raum entworfenen Skizzen verzeichnet werden, gleichzeitig aber auch das grossartige Instrument, welches das Leben so erfasst, wie es sich darbietet. Photographieren ist nichts, wenn die Intuition des Gefühls und der Erkenntnis nicht daran teilhat. Alle diese Fähigkeiten müssen sich aufs innigste durchdringen, und dann bedeutet das Einfangen eines selben Bilds eine grosse physische Freude.

Photographieren scheint etwas leichtes, aber es erfordert grosse Konzentrationskraft, die sich mit Begeisterung und geistiger Disziplin paaren muss. Nur eine grosse Sparsamkeit der Mittel führt zur Einfachheit des Ausdrucks. Der Photograph soll dem Gegenstand mit grosser Ehrfurcht gegenübertreten, aber von seinem eigenen Standpunkt aus. Das ist meine persönliche Einstellung; darum bin ich gegen das «gestellte» Photo sehr voreingenommen. Andererseits auferlegt die intensive Verwendung der Bilder dank der Massenmedien den Photographen immer neue Verantwortung. Unbestreitbar besteht ein Bruch zwischen den wirtschaftlichen Geboten unserer Konsumgesellschaft und den Ansprüchen jener, die von unserer Zeit Zeugnis ablegen. Das berührt uns alle und ganz besonders die Generation der jungen Photographen. Mehr denn je müssen wir darauf bedacht sein uns nicht von der Welt und dem Menschlichen trennen zu lassen.

April 2017

Text: Auszug aus:
Cartier-Bresson, Henri
Meine Welt
Verlag: Luzern : Bucher, 1968
Signatur: KCAC 008
Regal: Fotografie I

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