St. Anton, 1110 Meter über Meer, Appenzell Innerrhoden: Ich verbringe auf Einladung eine knappe Woche im Hotel Alpenhof und also in der Bibliothek des verstorbenen Mäzenen, Künstler und Sammler Andreas Züst. Die Bibliothek ist zweistöckig und fasst über 10’000 Bücher, das Hotel ist vierstöckig und die Zimmernummern enden bei der 27. Ich bewohne das Zimmer mit der Nummer Eins, es ist ein kleines Eckzimmer mit einem Balkon und wie unter jedem Fenster dieses Hauses steht auch unter dem Fenster des Zimmers mit der Nummer Eins ein Wort aus hölzernen Grossbuchstaben: ASKET, steht da ausgerechnet und nicht etwa Stammgast, Flüchtling, Schriftstellerin, Schlaflose oder was halt sonst noch unter den Fenstern des Alpenhofs steht.
In der Woche, die ich im Alpenhof verbringe, bin ich der einzige Gast, die anderen 26 Zimmer sind leer, nur hin und wieder kommt jemand vom Haus vorbei. Draussen spazieren tagsüber Rentnerinnen vorbei, aber nachdem das letzte Postauto, von denen es täglich fünf gibt, gefahren ist, also kurz nach Vier, ist hier niemand mehr. Manchmal heulen draussen die Hunde, Glocken werden in der Ferne geschwungen, vielleicht als Vorbereitung auf das anstehende Alt Silvester, und Abends erstreckt sich das Rheintal leuchtend bis an den Fuss des Vorarlbergs. Sobald es dunkel wird, scheint die Zeit überhaupt nicht mehr zu vergehen und dann sitze ich hier alleine in diesem Berghotel, zwischen 10’000 Büchern, im Vakuum der Askese und manchmal erschrecke ich, wenn ich raus auf den Balkon trete um zu rauchen, und das Rheintal verschwunden ist, weil sich eine Nebeldecke drübergelegt hat. Manchmal erschrecke ich auch einfach so, wegen eines Knarrens oder sonst eines Geräusches und dann schreibe ich ein paar Mal «All work and no play makes Jessica a dull girl» in ein Worddokument, als halbherzige Reminiszenz auf «The Shining», den ich eigentlich gar nie wirklich mochte und nur einmal als Teenager mit Freundinnen gesehen habe, zeitweise ohne Ton und in doppelter Geschwindigkeit, weil es irgendwem zu gruselig war.
Ich blättere mich quer durch die interdisziplinäre Bibliothek, die Schwerpunkte (Kunstbücher und Aliens) interessieren mich nicht besonders, aber Züst hat thematisch so breit gesammelt, dass das nicht schlimm ist. Ich lese drei inzestuöse Sodomie-Orgien lang in Marquis de Sade, danach eine Kurzgeschichte von H.C. Artmann, im einen oder anderen Buch der Beatgeneration, den Erlebnisbericht Emile Ammanns und Dora Kosters Autobiographie. Irgendwann entdecke ich die Rubrik «Das Weibe» und lasse mir von irgendeinem Typ aus den 50ern erklären, was frau für die perfekten Brüste tun kann: «Schöne Büste. JA, aber wie? Das Geheimnis zur Erlangung einer vollendeten Büste.» Direkt daneben steht Von Rotens «Frauen im Laufgitter». In der Fotografie-Ecke blättere ich in einem japanischen Pornoheft, in einem Fotoband über die Playboy Mansion und in einem über Marilyn Monroe. Dann schau ich noch ein bisschen bei der Drogen- und Cyberabteilung rein, Timothy Leary, «Chaos & Cyber-Kultur», mit Beiträgen von Winona Ryder und William S. Burroughs.
Einmal muss ich ins nächste Dorf runterfahren um Essen einzukaufen. In Oberegg gibt es eine Post (ohne Geldautomat), eine Bank (mit Geldautomat), einen Volg, eine Bäckerei, einen Hundefrisörsalon und einen Käseautomaten. Am Käseautomaten kaufe ich mir Eier und Käse und bin komplett gehypet und unfähig die Exotisierung des Appenzeller Vorderlands, die sich gerade in mir zusammenbraut, zu bremsen. Dabei sind das hier ja gar nicht die «Anderen», schliesslich bin in einer ganz ähnlichen Gegend aufgewachsen, nicht weit von hier, am anderen Ende des Appenzells, etwas weiter unten im Tal und den Säntis sah man aus einem anderen Winkel als vom St. Anton. Der Säntis, der ständig so unangenehme identitäre Regungen in mir auslöst, die ich am liebsten wegkratzen möchte wie unliebsame Mückenstiche oder so. Der Säntis, mein Berg, der Gipfel meiner Heimat, der täglich den Schatten Schweizerischer Identität auf meine Kindheit geworfen hatte. Und natürlich lässt sich neben der Exotisierung auch eine Romantisierung kaum aufhalten: Die Bibliothek, das verlassene Berghotel, die Aussicht vor den grossen Fenstern, der Käseautomat, die Wanderwege. Den ganzen Tag lesen und aus dem Fenster schauen oder gedankenverloren ein paar Gedichte schreiben. Es ist genau jener mondäne bohemian Lifestyle den ich nie wollte und den ich gleichzeitig als einen solchen Luxus empfinde, dass ich der Überzeugung bin, ihn nicht verdient zu haben, weil ich es mir nicht leisten könnte, weil ich eigentlich noch überhaupt nie in einem Hotel war, weil das ein Privileg ist und weil es sich aus meinem Habitus heraus irgendwie unbehaglich anfühlt. Und weil auf einem Berg chillen und den ganzen Tag lesen und aus dem Fenster schauen sowieso ein Privileg ist.
Die Gedanken an Kapital und soziale Klasse und Privilegien nagen dann auch an der Romantisierung, der Alpstein bröckelt, der Nebel zieht übers Rheintal und die Bücher beginnen zu miefen. Aber ich schiebe die Zweifel beiseite, sperre Bourdieu, der leibhaftig an mir zu nagen scheint, raus in die kalte Nacht, und sage zu mir selbst laut in die Stille hinein: Ich habe das verdient. Eine Minute später bin ich bereits misstrauisch ob dieser zu mir selbstgesprochenen Aussage, denn diese impliziert ja, dass ich mir zwar kein wirtschaftliches Kapital erarbeitet habe, dafür ein gewisses kulturelles, soziales oder auch symbolisches Kapital, womit ich mir diesen Aufenthalt erarbeitet und somit verdient habe. Aber ich will nichts verdient haben, weder monetär noch kulturell noch symbolisch, weil damit erarbeite ich mir Privilegien und Privilegien sind böse, habe ich im Internet gelernt. Ich will, dass alle gleichviel haben. Aber es ist halt immer noch Kapitalismus.
Einmal besucht mich eine alte Freundin in meiner Isoliertheit. Wir kennen uns unser ganzes Leben lang schon, unsere Mütter sassen damals hochschwanger zusammen und kurze Zeit später kamen wir auf die Welt, im Appenzeller Hinterland, sie genau eine Woche nach mir. Sie schaut sich um, streicht über ihren Bauch, in welchem sich gerade ein Kind zusammensetzt und meint, dass das zu mir passen würde, die schönen grossen Fenster, die Aussicht, die Bibliothek. Der Luxus. Und was sie damit eigentlich meint, ist doch nichts anderes, als dass es nicht falsch sei, dass ich hier bin und dass ich mir auch gar nichts zu verdienen bräuchte. Und Bourdieu, der ist draussen in der kalten Nacht erfroren, vielleicht von den Hunden zerfetzt worden. Oder die Silvesterkläuse haben ihn gefunden, bei sich aufgenommen und liebevoll aufgepäppelt am Kachelofen.
Der Alpenhof und die Bibliothek Andreas Züst ist in jedem Fall einen Besuch wert. Samstags von 13 bis 17 Uhr ist die Bibliothek öffentlich zugänglich. Zweimal im Jahr werden Residenzen ausgeschrieben, worauf jeweils hunderte von Bewerbungen folgen, wofür man also eine Menge kulturelles Kapital braucht. Einfach so Ferien im Hotel kann man auch machen, wofür man wiederum ein Menge an wirtschaftlichem Kapital braucht. Und: Privilegien sind übrigens mehr Symptom einer kapitalistischen Logik, als intrinsisch böse. Privilegierte Menschen sind vielleicht manchmal böse, oft aber auch einfach nur ziemlich unreflektiert.
Januar 2020
Text: Jessica Jurassica
Als Beitrag erschienen beim KSB Kulturmagazin.