Ein Regal voller Geschichten aus meiner Perspektive,
und mein Begehren nach Geschichten.
Geschichten die schon lange Bilder in meinem Kopf sind,
festgeschrieben und stetig wiederholt.
Ein Regal verstaubt und vergilbt, voller Begehren nach Entdeckungen, voller Lust der Entdecker.
Menschen, Kultur, Landschaft – Fische, Steine, Säugetiere, Insekten, Pflanzen, Geologie, Physiognomie und das Wetter.
Sammeln, entdecken, erfassen, erforschen, vermessen, kartografieren, beschreiben, aufschreiben, usw.
Im Online-Katalog werden zum Begriff “postkolonial” (0 Bücher gefunden), zum Begriff “Feminismus” übrigens auch. Dafür gibt es das Schlagwort “Das Weib”.
Ich frage mich, was ich hier mache, in diesem Eldorado der Erzählungen. Große Erzählungen:
“Afrika und die Afrikaner”
“Von Pol zu Pol”
“Auf Großer Fahrt”
“Von Peking nach Moskau”
“Das Bordbuch”
“Das Überseeische Deutschland”
“Die Deutsche Emin Pascha Expedition”
Jean de Lery, Humboldt, Kolumbus, Cook, usw.
Les Guides Bleus Illustrés, ein Reiseführer aus dem Jahr 1958. Von Paris nach Brazzaville (mit AIR FRANCE über Marseille, Fort-Land und Bangui) oder von Brüssel nach Léopoldville (über Genf und Tripoli) mit Karten und Abbildungen von den Denkmälern von König Albert I. und Henri Morton Stanley auf S.53, dazu Wasserfälle und Krokodile.
Durch die Mongolei,
nach China,
durch Brasilien,
zu den Feuerland-I* und zurück,
das Erklimmen von Berggipfeln,
Bilder von Wasserfällen,
Reisen zu Gletschern,
viele Strapazen und viele Entdeckungen.
Geschichten von Vielen, die die Ersten waren und davon berichten. Dazu nehme ich die zweibändige “Anleitung – zu wissenschaftlichen Beobachtungen auf Reisen in Einzel- und Abhandlungen” von 1906 zur Hand. Hier werden die Weltreisenden aufgefordert zu dokumentieren und zu erfassen, was sie zerstören. Wissen ist Macht steht da ganz unverhohlen, denn es geht um die Erschließung neuer Märkte. Schon immer, nur war mir das nicht klar, da ich an der Oberfläche der Geschichten klebte.
Ein Regal in dem sich diese eine und meine Perspektive kristallisiert. Bücher die ich nicht mehr lesen will, mich aber frage, wie ich mit ihnen umgehen kann. Denn da stehen sie. Sie stehen da immer noch und bewegen sich nicht weg aus all den Bibliotheksregalen. Gedruckt ist gedruckt und ich bin nicht die Erste, die sich die Frage stellt was ich mit diesem Regal anfangen soll. Beim Durchforsten der Regalbretter und Durchschauen der Bücher fallen mir kleine und große handgeschriebene Zettel in die Hände. Auf ihnen haben die Künstler:innen Luisa Marinho und Miro Spinelli[1] postkoloniale Ansätze etwa von Grada Kilomba oder Suely Rolnik als Reaktion auf die in diesem Regal dominante Perspektive aufgeschrieben. Eine subtile Einschreibung in die eurozentrische Perspektive und ich überlege, ob nicht alle Bücher ein Glossar problematischer Begriffe, eine Kontextualisierung, eine Triggerwarnung vor gewaltvollen Bildern und Texten benötigen. Aber was mache ich jetzt mit diesen Büchern, die ich gar nicht mehr lesen und auch nicht bearbeiten will? Sie einfach im Regal ruhen lassen, gezielt an ihnen vorbei greifen, als nicht mehr adäquate Literatur?
Mit Laurence und Mirjam[2] diskutiere ich am Abend den Zusammenhang zwischen meinen Überlegungen zu den kolonialen Reiseberichten und der 2018 erschienen und kommentierten Neuausgabe von “Mein Kampf“ – das hier im Original im Regal steht.
Dieser Text entstand am 22. November 2020, an meinem letzten Tag in der Residency Bibliothek Andreas Züst. Im September 2021 habe ich die Fußnoten eingefügt und im April 2022 habe ich den Text noch einmal gelesen und gekürzt.
[1] Luisa Marinho und Miro Spinelli waren im November 2017 in der Residency Bibliothek Andreas Züst.
[2] Die Dokumentarfilmemacher:innen Laurence Favre um Mirjam Landolt waren zeitgleich im November 2020 in der Residency Bibliothek Andreas Züst und wir haben viele Mahlzeiten und Überlegungen in dieser Zeit miteinander geteilt.
Text: Frauke Zabel
November 2020/April 2022