Anita Rufer, Mara Züst:
Edward Bellamys Bibliothek

15. Kapitel.

Als wir auf unserem Rundgang durch das ganze Haus ins Bibliothekzimmer kamen, konnten wir es nicht über uns gewinnen, an den einladenden, eleganten Ledersesseln ohne weiteres vorüber zu gehen. In einer behaglichen Nische, von Büchern rings umgeben, liessen wir uns nieder und hielten Siesta.*
«Edith hat mir erzählt, dass Sie den ganzen Vormittag in der Bibliothek verbracht haben,» sagte Frau Leete. «Ich finde, dass Sie unter allen Menschen am meisten zu beneiden sind.» «Würden Sie mir wohl sagen, weshalb?» «Weil Sie die Bücher noch nicht kennen, die im Verlaufe des letzten Jahrhunderts geschrieben worden sind. In den nächsten fünf Jahren werden Sie durch das Lesen der vielen fesselnden literarischen Erscheinungen in Anspruch genommen, sich kaum Zeit lassen, Ihre Mahlzeiten zu geniessen. Wie gern möchte auch ich Berrians Romane zum ersten Male lesen.» «Oder Nesmyths Werke,» warf Edith ein. «Gewiss, und Vaters Gedichte: ‹Vergangenheit und Gegenwart› und ‹zu Anfang›. Ach, ich könnte mindestens zwölf Bücher aufzählen,» erklärte Frau Leete voller Begeisterung. «So darf ich wohl annehmen, dass während dieser hundert Jahre eine neue interessante Literatur entstanden ist?» «Freilich,» antwortete Dr. Leete, «es war eine Zeit beispielloser Geistesgrösse. Wohl nie zuvor hat die Menschheit in ethischer und materieller Beziehung in so kurzer Zeit so umfassende Wandlungen erfahren, wie diese aus den alten Verhältnissen hervorgegangene Neugestaltung zu Anfang des 20. Jahrhunderts sie mit sich brachte. Alle gewannen allmählich das volle Verständnis für das grosse Glück, das ihnen zuteil geworden war, sie empfanden, dass der Wechsel der Dinge nicht lediglich einen Fortschritt in den Einzelheiten ihrer Lebensbedingungen bedeutete, sondern den Aufstieg der ganzen Rasse zu einer neuen Sphäre ihres Daseins – mit unbegrenzten Möglichkeiten zur Vervollkommnung. Da wurden ihre seelischen und geistigen Kräfte von Ehrgeiz beseelt – die Blüte der mittelalterlichen Renaissance kann uns vielleicht ein noch unvollkommenes Spiegelbild dieser neuen Epoche bieten. Jetzt entstanden die neuen Erfindungen auf technischem Gebiete, wissenschaftliche Forschungen und künstlerische Errungenschaften, eine Produktivität in der Musik und Literatur, die bis dahin ganz unerreicht war.»

aus: Rückblick von dem Jahre 2000 auf das Jahr 1887, Edward Bellamy, Ausgabe Georg Müller, München 1919.
Originaltitel: «Looking Backward or Life in the Year 2000», erstveröffentlicht 1888 in den USA. Signatur Züst LABA B014 (Ausgabe von 1919) und LABA B14x (Ausgabe von 1973)

Der Roman «Rückblick von dem Jahre 2000 auf das Jahr 1887» Bellamys erzählt die Geschichte eines jungen Mannes, der nach rund hundert Jahren Schlaf aufwacht. Dadurch erhält er die Gelegenheit, die Gesellschaft mit ihren zwischenzeitlich gemachten Entwicklungen erneut kennenzulernen. Das Buch war damals ein Bestseller, möglicherweise auch darum, weil in dieser Utopie die Gesellschaftsprobleme seiner Zeit zuversichtlich als lösbar beschrieben wurden.

Heute trifft das Buch uns da, wo wir die damals utopische Zukunft als unsere jetzige Zeit lesen können. Und es lässt uns dort verstummen, wo wir uns damit auseinanderzusetzen haben, dass die Utopie sich nicht realisiert hat und wir als Menschheit ständig darin scheitern, hin zum Besseren oder gar Guten zu kommen.

Juli 2011
Text: Anita Rufer