Paula Fürstenberg, Simone Lappert:
Arno Schmidts Wundertüte

Vielleicht ist Dir auch folgende überlegung neu: Ein junger Mensch, der ja praktisch nichts kennt, als sich selbst und die eigenen Gefühle, musz demzufolge Lyriker sein: Lyrik, das ist die bestrickende Sprache, die bestechendste liebenswürdigste Form des Egoismus. Wenn er (Goethe) aber noch über 30, also wenn er Welt und Wiesen hat einigermaszen kennen gelernt, habituell Lyrik produziert, also weiterhin nur sein eigenes Seelchen belauscht, dann sei vorsichtig im Verkehr mit ihm. Denn Dichter sein: das heiszt in allen Dingen sein (die unter 1000 Mark kosten), mit allen Menschen fühlen (nur den bewuszt Vornehmen nicht), in allen Zimmer treten (Antichambres ausgenommen), Alle Sprachen sprechen (auszer Slang und Sächsisch), alle Wissenschaften durchlaufen (auszer Heraldik und rer. pol.)

Aus: Arno Schmidts Wundertüte
Arno Schmidt Stiftung, Bargfeld 1989, S. 144
Signatur Züst LABASO 49

Zwei Autorinnen tippen einen kurzen Textausschnitt des Buches «Arno Schmidts Wundertüte» mit Schreibmaschine nach. Der bereits gedruckte und veröffentlichte Text erhält mit dem Nachtippen Merkmale eines Manuskripts zurück, die beim buchgedruckten Text nicht mehr sichtbar sind/waren.
Es ist eine ungewöhnliche Art der Annäherung an einen Autor und seinen Text, den die Schreibenden hier unternehmen. Vielleicht ist dieses Verfahren der Versuch, den Text zum Autor zurückzubringen. Sicherlich heben sie damit den prozesshaften Charakter des Schreibens hervor: der Vorgang des Schreibens dauert. Ebenso verweisen die Autorinnen mit dem Nachtippen des Textes auf sich selber: als schreibende Lesende.

Frühling 2011
Text: Anita Rufer